1860

Ich sitze an der Bar. Über mir der Fernseher. Wenige Kerzen leuchten. Kein Zucken der Flammen. Kein heruntertropfendes Wachs. Als würden sie für immer leuchten, diese Kerzen. Sechs Spiele ohne Sieg. Jetzt fühlt sich Union endlich wieder an wie das Leben und nicht wie die Strugazki-Brüder. Ich gucke aus dem Fenster. Draußen schweben Schatten vorbei. Über die Straßen. Nach Hause. Lichtschein an der Ampel. Grün, und weg. So wie die Punkte. Wo könnte Union jetzt stehen, wenn... und wieder sitze ich an der Bar, auf diesem Hocker, mit angezogenen Beinen und verschränkten Armen.
Wo könnte ich jetzt sein?

Der Bär hinter der Theke und ich, wir haben eine Abmachung. Fußball ohne Ton, stattdessen mit Musik. Und zwar nicht einfach nur mit Musik, sondern mit guter Musik. Ich und der Bär, wir haben beide keine Lust auf Fußballgucken begleitet von gelackten Kommentatoren. Auf all die verirrten Börsianer, eingeflogen aus der Savile Road. Mikrofon in die Hand gedrückt und action! All die Werbung, all die Jingles und immerzu diese Klopp-Totalen. Bitte kein Ton. In meinem Gehirn funkt es schon genug.

Die Tür geht auf, wir wenden unsere Blicke. Doch niemand kommt herein. Nur ein Windzug. Wer will hier schon rein? Die Kerzen lassen sich nicht beirren, schon gar nicht vom Wind. Ein Fehlpass, ein Rückpass und noch ein Rückpass. The Smiths drehen sich auf dem Plattenteller, There is a light that never goes out. Ich habe es geschafft, dieses Lied sieben Mal auf eine Vinyl-Seite zu pressen. Knapp eine halbe Stunde lang nur dieses Lied. Hörte man es nur ein Mal, würde man es verraten. Ein Angriff versandet, eine Ecke geht ins Aus, Parensen sieht gelb. Take me out tonight, where there's music and there's people.

Biergläser dürfen nicht bedruckt sein. Kerzenlicht in einer Bar macht erst dann Sinn, wenn man das Licht durch ein volles Bierglas betrachtet. Und dabei würde jeder Schriftzug stören. Es macht deswegen Sinn, weil ein Bier dann am besten schmeckt. Union. Dann aber gutes Bier und ordentlich beleuchtet. Halbzeit. Ein Schuß aufs Tor, weit vorbei. Neue Platte auf dem Teller, Bill Callahan. Singt er die Worte, The only words I've said today are beer and thank you ... Beer / Thank you / Beer... Thank you oder sind das meine Worte? Ist mein Glas noch voll oder ist es ein neues Glas? Sagt Uwe in der Halbzeitpause mehr als beer und thank you?

Die Spiele gleichen sich, die Ergebnisse ähneln sich, das Wetter ähnelt sich. Gleicher Frust. In jeder Saison gibt es diese Phase. Das Spiel läuft wieder. In dieser gottlosen Arena. Anne Clark ertönt, It seems I'm losing my way again. Und es klingt so kühl bei ihr. So vorherbestimmt. Unausweichlich. Parensen sieht rot. Kein kühler Kopf mehr auf dem Platz. Und Tor. Die Tür geht wieder auf, nur ein Stück. Aber es reicht für den Duft vom nahe gelegenen Weihnachtsmarkt, um das verqualmte Zimmer für kurze Zeit mit Zimtgeschmack zu vernebeln. Das passt jetzt hier nicht her. Bier, ich brauche ganz schnell ein neues Bier. Anne singt: Back into an ordinary life, an ordinary life.

Tusche schießt einen Elfmeter, der kein Elfmeter war. Jedenfalls nicht für einen Unioner. Das alte Schnurtelefon an der Wand klingelt. Es klingelt und klingelt und klingelt, minutenlang. Wie in Es war einmal in Amerika. Da wird ein normaler Mensch zur Bestie. Der Bär jedoch nimmt ganz entspannt den Hörer von der Gabel und fängt sofort an zu brüllen: Wie kann man in einem 4-5-1-System mit einer so tiefstehenden Abwehr spielen? Da macht das ganze System doch keinen Sinn! So ist weder Überzahlspiel im Angriff, noch vernünftiges Pressing bei Ballverlust möglich. Und bäng, er knallt den Hörer zurück auf die Gabel und zieht sich zurück an seine Wand, Blick stur auf den Fernseher gerichtet.

Ich gucke ihn beeindruckt an. So viel hatte der Bär meines Wissens nach noch nie gesprochen. Ich konnte ihm nicht richtig folgen, vieles schwamm vor meinem Auge hin und her. Aber wenn der Bär redet, dann muss es stimmen. Er ist schließlich kein Politiker. Die letzten Minuten des Spiels laufen. Zäh wie Brei, ein aussichtsloses Gequirle. Dieses Leben. Und daran ist nicht der Schiedsrichter Schuld. Ende. Verloren. Pressekonferenz ohne Ton. Eine Wohltat. All das Geseier, wöchentlich, monatlich derselbe Scheiß. Eine langsame Verdummung, oberflächliches Frezeitgestaltungsgekotze. Bullshit, der so wichtig wird. Bis es sich so leer anfühlt und man fragt sich: Warum und wofür Union? Letzte Platte für heute von den Young Gods mit Kissing the sun und dann rüber, über die Straße, ab nach Hause, die Augen drehen sich ohne Kontrolle wohin sie wollen... und eines Tages werden wir die Sonne küssen!

Soon we will be on our way / 
Say goodbye to yesterday

Soon we will be in the light / 
Swimming in the open sky

We’ll spread our wings around the stars / 
Watch the way we drop our scars

We will be kissing the sun / 
Everybody knows we'll be kissing the sun 

One and one with the one you’ve chosen / 
We’ll spread our wings as we get higher

Spread our wings into the fire / 
We will be kissing the sun 

Everybody knows kissing the sun / 
One and one and the thing explodes