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Stockholm


Ein Junge rennt mit dem Ball am Fuß die staubige Straße hinunter zum Hafen. Er umdribbelt einen im Weg liegenden Hund, überspringt ein Schlagloch, spielt Doppelpass mit einer besprühten Mauer. Endlich Fußball! Jetzt, hier auf der Straße und heute Nachmittag im Stadion. Eine kurze Atempause während der Revolution. Kann es das geben?

Am Hafen geht die Sonne auf. Riesige Frachter, beladen mit hunderten Containern, dringen vom Kanal hinaus ins Mittelmeer. Der Junge blickt zum Horizont, sitzt auf seinem Ball und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Wann hört das nur endlich auf?
Er ist noch viel zu jung und kann sich doch nicht entziehen. In der ersten Reihe stehen seine Freunde. Und sie erwarten es auch von ihm. In diesen Tagen kann man sich nicht ducken. Aber in wenigen Stunden ist Anpfiff und alles andere ist egal. 90 viel zu kurze Minuten.
Ausgebrannte Autos am Wegesrand. Kaum Polizei präsent. Das Stadion in Sicht. Die Jungs, allesamt Nachwuchsspieler, haben Karten für den neutralen Bereich des Stadions. Doch es gibt keine entspannte Atmosphäre bei einem Fußballspiel, schon lange nicht mehr und so auch heute nicht.
Die Erzrivalen treffen aufeinander, das Flimmern in der Luft ist noch stärker als sonst, die Fans sind noch konzentrierter, als könnten sie dadurch den Spielausgang beeinflussen. Der Junge vom Hafen guckt den Spielern beim Aufwärmen zu, merkt sich einzelne Übungen. Später will er sich auch so professionell vorbereiten.
Eine erste Schlägerei zwischen den Fangruppen. Sie währt nur kurz. Ein Strohfeuer? Das Spiel beginnt. Es geht hin und her. Keine Atempause. Tore fallen. Doch das ist nicht nur ein Spiel. Die Straße ist im Stadion, das Grün wird grau. Es gibt keine Flucht, nicht in diesen Tagen und schon gar nicht im Stadion. Der Junge hat sich getäuscht.
Brandsätze und Steine in der Luft. Und ein Ball. Kein Spielabbruch. Was ist hier los? Die Spieler sind wie in Trance. Die Tribünen spielen verrückt. Weiter. Nicht aufhören. Abpfiff. Und es geht erst richtig los. Messer, Schlagstöcke und Schwerter. Die wenigen Polizisten nicht in Sicht. Blut. Panik. Geschlossene Tore. Der Junge will nur noch weg. Raus hier. 74 Tote, 1000 Verletzte.
Zwei Jahre später. Die Lage im Land hat sich beruhigt. Der talentierte Junge spielt jetzt Fußball in Europa. Er kann es schaffen - was für eine Chance, fern der Heimat. Ein letztes Mal fliegt er zurück, packt seine Sachen, verabschiedet sich von der Mutter. Da erreichen ihn Bilder von einem Testspiel seines neuen Vereins: Leuchtfeuer, Raketen, Platzsturm. Weswegen? 
Wegen eines Banners aus einer längst vergessenen Zeit.
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1860

Ich sitze an der Bar. Über mir der Fernseher. Wenige Kerzen leuchten. Kein Zucken der Flammen. Kein heruntertropfendes Wachs. Als würden sie für immer leuchten, diese Kerzen. Sechs Spiele ohne Sieg. Jetzt fühlt sich Union endlich wieder an wie das Leben und nicht wie die Strugazki-Brüder. Ich gucke aus dem Fenster. Draußen schweben Schatten vorbei. Über die Straßen. Nach Hause. Lichtschein an der Ampel. Grün, und weg. So wie die Punkte. Wo könnte Union jetzt stehen, wenn... und wieder sitze ich an der Bar, auf diesem Hocker, mit angezogenen Beinen und verschränkten Armen.
Wo könnte ich jetzt sein?

Der Bär hinter der Theke und ich, wir haben eine Abmachung. Fußball ohne Ton, stattdessen mit Musik. Und zwar nicht einfach nur mit Musik, sondern mit guter Musik. Ich und der Bär, wir haben beide keine Lust auf Fußballgucken begleitet von gelackten Kommentatoren. Auf all die verirrten Börsianer, eingeflogen aus der Savile Road. Mikrofon in die Hand gedrückt und action! All die Werbung, all die Jingles und immerzu diese Klopp-Totalen. Bitte kein Ton. In meinem Gehirn funkt es schon genug.

Die Tür geht auf, wir wenden unsere Blicke. Doch niemand kommt herein. Nur ein Windzug. Wer will hier schon rein? Die Kerzen lassen sich nicht beirren, schon gar nicht vom Wind. Ein Fehlpass, ein Rückpass und noch ein Rückpass. The Smiths drehen sich auf dem Plattenteller, There is a light that never goes out. Ich habe es geschafft, dieses Lied sieben Mal auf eine Vinyl-Seite zu pressen. Knapp eine halbe Stunde lang nur dieses Lied. Hörte man es nur ein Mal, würde man es verraten. Ein Angriff versandet, eine Ecke geht ins Aus, Parensen sieht gelb. Take me out tonight, where there's music and there's people.

Biergläser dürfen nicht bedruckt sein. Kerzenlicht in einer Bar macht erst dann Sinn, wenn man das Licht durch ein volles Bierglas betrachtet. Und dabei würde jeder Schriftzug stören. Es macht deswegen Sinn, weil ein Bier dann am besten schmeckt. Union. Dann aber gutes Bier und ordentlich beleuchtet. Halbzeit. Ein Schuß aufs Tor, weit vorbei. Neue Platte auf dem Teller, Bill Callahan. Singt er die Worte, The only words I've said today are beer and thank you ... Beer / Thank you / Beer... Thank you oder sind das meine Worte? Ist mein Glas noch voll oder ist es ein neues Glas? Sagt Uwe in der Halbzeitpause mehr als beer und thank you?

Die Spiele gleichen sich, die Ergebnisse ähneln sich, das Wetter ähnelt sich. Gleicher Frust. In jeder Saison gibt es diese Phase. Das Spiel läuft wieder. In dieser gottlosen Arena. Anne Clark ertönt, It seems I'm losing my way again. Und es klingt so kühl bei ihr. So vorherbestimmt. Unausweichlich. Parensen sieht rot. Kein kühler Kopf mehr auf dem Platz. Und Tor. Die Tür geht wieder auf, nur ein Stück. Aber es reicht für den Duft vom nahe gelegenen Weihnachtsmarkt, um das verqualmte Zimmer für kurze Zeit mit Zimtgeschmack zu vernebeln. Das passt jetzt hier nicht her. Bier, ich brauche ganz schnell ein neues Bier. Anne singt: Back into an ordinary life, an ordinary life.

Tusche schießt einen Elfmeter, der kein Elfmeter war. Jedenfalls nicht für einen Unioner. Das alte Schnurtelefon an der Wand klingelt. Es klingelt und klingelt und klingelt, minutenlang. Wie in Es war einmal in Amerika. Da wird ein normaler Mensch zur Bestie. Der Bär jedoch nimmt ganz entspannt den Hörer von der Gabel und fängt sofort an zu brüllen: Wie kann man in einem 4-5-1-System mit einer so tiefstehenden Abwehr spielen? Da macht das ganze System doch keinen Sinn! So ist weder Überzahlspiel im Angriff, noch vernünftiges Pressing bei Ballverlust möglich. Und bäng, er knallt den Hörer zurück auf die Gabel und zieht sich zurück an seine Wand, Blick stur auf den Fernseher gerichtet.

Ich gucke ihn beeindruckt an. So viel hatte der Bär meines Wissens nach noch nie gesprochen. Ich konnte ihm nicht richtig folgen, vieles schwamm vor meinem Auge hin und her. Aber wenn der Bär redet, dann muss es stimmen. Er ist schließlich kein Politiker. Die letzten Minuten des Spiels laufen. Zäh wie Brei, ein aussichtsloses Gequirle. Dieses Leben. Und daran ist nicht der Schiedsrichter Schuld. Ende. Verloren. Pressekonferenz ohne Ton. Eine Wohltat. All das Geseier, wöchentlich, monatlich derselbe Scheiß. Eine langsame Verdummung, oberflächliches Frezeitgestaltungsgekotze. Bullshit, der so wichtig wird. Bis es sich so leer anfühlt und man fragt sich: Warum und wofür Union? Letzte Platte für heute von den Young Gods mit Kissing the sun und dann rüber, über die Straße, ab nach Hause, die Augen drehen sich ohne Kontrolle wohin sie wollen... und eines Tages werden wir die Sonne küssen!

Soon we will be on our way / 
Say goodbye to yesterday

Soon we will be in the light / 
Swimming in the open sky

We’ll spread our wings around the stars / 
Watch the way we drop our scars

We will be kissing the sun / 
Everybody knows we'll be kissing the sun 

One and one with the one you’ve chosen / 
We’ll spread our wings as we get higher

Spread our wings into the fire / 
We will be kissing the sun 

Everybody knows kissing the sun / 
One and one and the thing explodes

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K'lautern

Grauer Beton bestimmte sein Blickfeld, egal wohin er ging, es war tiefstes Grau. Überall Beton, überall Asphalt. Und auch der Himmel trug immer Trenchcoat. Unablässig lief der Regen die unverputzten Mauern herunter. Platsch, platsch, platsch. Die ganze Straße stand unter Wasser, Pfützen waren nicht mehr erkennbar, ein dunkles, kaltes Meer zeichnete sich zwischen den Häuserwänden ab. Die wenigen Autos ließen bläuliche Ölspuren zurück. Folgte er diesen Spuren, entkäme er dann dieser tristen Stadt?

Familie Wendt saß beim Abendbrot. Es gab Schnittchen. Der Wind zischte an den Fensterläden vorbei, sagte kurz Hallo und verschwand. Nur die Regentropfen am Glas blieben stumme Zeugen der Szenerie. Die Lampe über dem Tisch zeichnete das Zimmer in ein Gelb, das auf Dauer krank macht. Die Tischdecke war einmal bläulich gefärbt, nun erschien sie so grau, wie die fette Schicht Leberwurst auf der Stulle seines Vaters. Akkurat teilte dieser sie in kleine, mundgerechte Häppchen, so dass sie in seinen schmalen, kurzen Mund passten. Sein Vater sagte nichts, seine Mutter fragte nichts. Sie ließen ihn in Ruhe und zeigten ihm doch mit ihrem Verhalten, was erlaubt war und was nicht.

Nach dem Essen stieg er die mit einem karierten Teppich besetzte Treppe hoch zu seinem Zimmer. Auf halbem Weg guckte er hinunter zu seinen Füßen und konnte seine Haussschuhe nicht vom Muster des Teppichs unterscheiden. «Gut angepasst», dachte er. Oben angekommen schmiss er sich auf sein Bett, das Licht machte er erst gar nicht an. Durch den offenen Türspalt ertönte von unten eine aufgeregte Radio-Stimme und ließ auf ein spannendes Spiel schließen. Doch mithören durfte er nicht. Sein Vater saß allein auf dem Ledersofa und wollte nicht gestört werden, so wie immer. Er lauschte dem Spiel. Sein Blick ging vom Bierglas in seiner Hand und dem Empfangsgerät hin und her. Und mehr passierte nicht.

Nun schloss der Junge die Tür und trat an seine Dachluke. Er schob den Riegel beiseite. Wie in Zeitlupe fiel der feine Regen auf seine Haare und in sein Gesicht. So stand er da. Mit seinen Hausschuhen und den Händen bewegungslos in den Hosentaschen. Er schloß die Augen. Komplette Dunkelheit umhüllte ihn nun. Und plötzlich hörte er in der Ferne ein wildes Jubelgeschrei erklingen. Er öffnete die Augen und sah am Himmel einen blauen-weißen Lichtschimmer. Zwischen all den dunklen Häusern, all den dunklen Wolken, all der harten Watte in seinem Viertel erblickte er etwas, was dort nicht hingehörte.

Im Nu kletterte er aus der Luke hinauf aufs Dach, sprang von dort hinunter auf den frisch gestutzten Rasen und folgte dem Lichtschein. Es dauerte keine fünf Minuten und schon stand er an der Quelle. Er war geflogen, über Matsch und Wasser. Triefend und mit laufender Nase stand er vor einem leerstehenden, noch vom Krieg zerstörten Haus. Der Lichtschein kam aus der obersten Etage, er hob seinen Blick und ein Stimmgewirr prasselte auf ihn hinab. Schon war er im Haus und erklomm die ersten Treppenstufen. Auf dem Weg nach oben musste er immer wieder über fehlende Stufen springen und zerborstenem Holz ausweichen. Seine Hausschuhe waren nass und dreckig wie eine Ratte nach dem Baden in der Kanalisation. «Ach, die Schuhe», schmunzelte er. Er verschwendete keinen Gedanken an die Reaktion seiner Eltern. Er kam seinem Ziel immer näher. Der nassen und verfaulten Luft schwang jetzt ein eigenartiger Geruch mit. Leicht süßlich, so ganz anders als der strenge Zigarettenrauch seines Vaters.

Und da stand er in der offenen Wand und blickte in das zerstörte Zimmer. Mit weiten Augen sah er eine Horde Jugendlicher, Jungs und Mädchen, überall herumliegend, aber alle mit Blick zum kleinen Fernseher, der an der einzig noch stehenden Wand lehnte. Bier spritze herum, Rauchschwaden standen in der Luft. Dazu stimmte die Gruppe immer wieder lautstark und lallend Anfeuerungsrufe an. Es dauerte keine Minute, da wurde der Junge von einem Mädchen mit Janis Joplin-Mähne an der Hand gepackt und in den Kreis hineingezogen. «Du bist doch für den MSV?!», befahl sie mehr als sie fragte. Der Junge konnte sein Glück kaum fassen. Die Truppe guckte doch tatsächlich das Pokal-Endspiel zwischen Bayern München und dem Meidericher SV. «Darfst du schon Bier trinken?», fragte das Mädchen den Jungen. «Ach, egal, hier probier mal».

Es lief die 72. Spielminute, der MSV lag 2:1 hinten. Der Junge kostete seinen ersten Schluck Bier, das Mädchen lächelte ihm verschwörerisch zu. Da plötzlich schoss Hartmut Heidemann den Ausgleich! Die Gruppe fiel übereinander her, ein menschliches Knäul knarzte über die Dielen, den jubelnden Spielern im Fernseher in Nichts nachstehend. Und mittendrin der Junge, eine Hand fest die Bierflasche umklammernd, in der anderen die Hand des fremden Mädchens, die wilde Freudenschreie ausstieß. Doch da spürte der Junge auf einmal die harte Hand eines Erwachsenen an seinem Schopf. Mit einem Schlag zog sie ihn aus dem Getümmel. Er baumelte in der Luft. Vor ihm, Nase an Nase, stand sein Vater mit eiskaltem Gesichtsausdruck. «Wer hat dir das erlaubt?», schrie und spie dieser seinen verdutzten Sohn an. Es dauerte keine fünf Minuten und der Junge war wieder eingesperrt in seinem Zimmer.

Ähnliche Gruppen von Fußballfans sollten dem Jungen in seinem späteren Leben noch oft begegnen. Jedoch auf ganz andere Weise als an dem geschilderten Tag.

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KBSC

Hilde und Kerstin gingen zusammen mit Ulla in eine Klasse. Ihre Schule lag am Ende einer Allee. Jeden Morgen gingen die Mädchen an den Pappeln entlang und auf das alte, den Horizont verdunkelnde Gebäude zu. Ulla ging stets auf der linken Straßenseite, Hilde und Kerstin auf der rechten. Alle drei Mädchen waren in etwa gleich alt.

Ihre Stadt war eigentlich eine ganz gewöhnliche, wäre da nicht vor wenigen Jahren das Feuer gewesen. Die gefräßige Hitze verwandelte die einst so mächtigen Pappeln in gebrechliche, pechschwarze Knechte der Natur. Wenn die Mädchen auf dem Weg zur Schule mit dem Kichern anfingen und auf den umgestürzten Baumstämmen herumturnten, zischten die in den verkohlten Astlöchern schlafenden Krähen aufgebracht hervor und stoben in den Himmel, um sich auf dem Spitzdach der Schule niederzulassen und auf das Eintreffen der Schülerinnen zu warten.

Früher waren Ulla und Hilde normale Bekannte. Sie luden sich gegenseitig zum Geburtstag ein und halfen sich bei den Hausaufgaben. Nach einiger Zeit verloren sie sich aus den Augen und aus dem Sinn. Ulla ging ihren Weg. Hilde hingegen fand in Kerstin ihre allerbeste Freundin. Die beiden entwickelten sich zu gefürchteten Anführerinnen. Alle Kinder spurten, niemand wagte, sich zu widersetzen. Einzig Ulla wollte sich nicht fügen. Und so begannen Hilde und Kerstin, Ulla zu hänseln. Sie verbreiteten Lügen über sie und isolierten sie dadurch von den anderen Schülerinnen. Doch Ulla störte all dies nicht. Sie ruhte in sich, ließ sich nicht provozieren. Stoisch ertrug sie, wie die beiden sie regelmäßig auf dem Pausenhof auslachten und herumschubsten. Dass Ulla keine Reaktion zeigte, machte Kerstin und Hilde jedoch nur noch wütender.

Und so kamen die beiden eines Tages als ungebetene Gäste zu Ullas Geburtstagsfeier, warfen ihre Torte um, schütteten verkohlte Baumrinde in die Bowle und stachen die Reifen von Ullas neuem Fahrrad kaputt. Ulla, ein Mädchen mit schier unendlicher Gelassenheit, blieb während dieser Arie der Zerstörung ruhig in ihrer Hängematte liegen. Doch wenn man genau hinsah, konnte man ihre feuchten Kinderaugen sehen. Auch Ulla konnte sich nicht ewig beherrschen. Innerlich tobte sie und rang mit sich, ob sie reagieren sollte oder nicht.

Während die anderen Gäste schüchtern ihre Blicke abwendeten und Hilde und Kerstin sich daran machten, Ullas Geschenke auszupacken, wich ein kaum merklicher Schauer über die Nacken aller Anwesenden. Schlagartig verstummte die Szenerie, die Leute erstarrten. Unweigerlich richteten sich die Blicke hin zur Hängematte, in der Ulla scheinbar seelenruhig vor sich hin schlief. Einzig eine Krähe drehte unablässig ihre Runden hoch über der Gesellschaft, darauf wartend, sich auf die Reste des Essens stürzen zu können.

Schon wich der Schreck wieder aus den Gliedern, da erhob sich ganz langsam ein schemenhafter Geist aus der Hängematte empor. Ullas Körper rührte sich zwar immer noch nicht, doch wandelte sie nun gleichzeitig als kaum zu identifizierender Nebel aufrecht über dem Boden und über die Tortenreste hinweg auf Hilde und Kerstin zu. Die Leute standen wie angewurzelt da, allein ihre Augen folgten der kindlichen Gestalt, die mit einem fürchterlichen Lächeln und einer Sense in der Hand auf die ungebetenen Gäste zuhielt. Hilde und Kerstin hatten keine Zeit zu reagieren. Die von zarten Händen geschwungene Sense traf die Hälse der beiden mit einem perfekten Schwung.

Langsam wich Ullas Ebenbild zurück und legte sich auf die echte, immer noch dösende Ulla und war verschwunden. Die Blicke der Menschen wanderten von der Hängematte hin zum blutigen Schauplatz. Doch dort war kein Blut zu sehen. Hilde und Kerstin standen äußerlich unversehrt mit bleichen Gesichtern im Tortenmatsch.

Als Ulla ihre Augen öffnete, war sie allein im Garten. Alle Gäste haben überstürzt das Areal verlassen. Auch Hilde und Kerstin. Einzig die Krähe pickte zufrieden in den Kuchenresten herum.

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in Köln...

Es hätte eine schöne Feier werden können. Alles war bereitet. Die Lichter strahlten hell, das Grün war saftig. Zahlreiche Gäste zierten das weite Rund. Die Hochburg der Narren hatte geladen. Und Union war gekommen, um mitzufeiern. Punktgleich in der Tabelle und seit neun Auswärtsspielen ungeschlagen. Mit dem grünen Karnevalskostüm erhielten die Mannen um Kapitän Michael Parensen problemlos Einlass. Die Spieler des Heimvereins erblassten beim Anblick der Berliner vor Neid. Ihr extra angefertigtes Karnevals-Jersey wirkte doch recht bürgerlich im Vergleich zu den zehn Hulks von der Wuhle. Doch fast hätten die Marvel-Comic-Helden die große Sause verpasst, denn...

... am Spieltag, dem ersten Tag nach den Herbstferien, meldete der Buschfunk schon am frühen Mittag 150 Kilometer Stau auf den Straßen des einwohnerreichsten Bundeslandes. "Egal!", rief Michael Parensen beim Frühstück dem Busfahrer entgegen, der gerade genüsslich Apfelmus auf einen Eierkuchen strich. "Ich kenne mich hier aus. Ich habe schon für den effzeh gespielt", fügte der gebürtige Westfale an und beendete somit die Frage der Anreise. Die Spieler widmeten sich weiter ihrem Frühstück, wobei Martin Dausch besonders angesäuert in seinem gemütlich gepolsterten Sessel hing. Trotz des Fehlens der Spaßkanone Mattuschka hat er vor dem Frühstück von Kardinal Neuhaus erfahren, "es sich unter der mollig warmen Geißbock-Decke" auf der Bank bequem machen zu können. Dabei hatte der zuvor so hochmotivierte Spieler extra sein Haarband lila gefärbt, dem "farbenfrohen Anlass entsprechend", wie der Bayerische Schwabe den bunten Blättern diktierte. Statt seiner durfte Adam Nemec ran. Dieser zwinkerte dem traurigen Dausch während des Frühstücks immerzu an und setzte dazu ein schelmisches Grinsen auf. Zum Abschluss des Essens schnappte sich der Slowake freudig einen Pfannkuchen, biss hinein und spuckte im selben Moment angewidert den Senf-Happen hinaus und bekleckerte sein Tanzmariechen-Kostüm. Ein leises "Haha" ertönte aus dem Munde Martin Dauschs. Der Zeiger stand auf 11:11 Uhr.

Am späten Nachmittag saß die Berliner Schunkel-Gesellschaft abfahrbereit im Bus. Doch es fehlte Stürmer Terodde! Unrhythmisch bewegte sich der Unterkiefer von Trainer Uwe Neuhaus umher und ließ auf eine gewisse Angespanntheit schließen. Assistent Hofschneider reichte ihm zur Beruhigung ein Stück Milka-Schokolade. Neuhaus fing sogleich schmatzend an zu lutschen und verfiel in eine Art Trance-Zustand. Terodde stand währenddessen seelenruhig vor dem goldenen Spiegel in seinem Hotelzimmer und zupfte genüsslich an seinen Haaren herum. Die zottelige Perücke musste schließlich sitzen! Der sonst so geschniegelt aussehende Terodde hatte sich für den feierlichen Anlass etwas ganz besonderes überlegt. Er wollte sich als Art Gafunkel verkleiden und damit dem Folk-Duo Simon & Gafunkel Tribut zollen, dessen Musik er immer wieder auf's Neue in der Kabine anmacht und sogleich auf Geheiß von Ostgut-Musik-Liebhaber Kreilach immer wieder auf's Neue ausmachen muss. "Dem Franz werd ich's zeigen", frohlockte Terodde.

Und so trug es sich zu, dass der Berliner Bus, den übrigens ein großes Konterfei von Kurt Beck zierte, durch die verzögerte Abfahrt in den Stau geriet und erst 37 Minuten vor Partybeginn im Stadion ankam. Dem FC kam die späte Ankunft der Berliner nicht unrecht. Denn auch sie hatten Probleme mit der Anreise eines ihrer Spieler. Patrick Helmes steckte im Mittellandkanal fest. Er wollte unbedingt einem ehemaligen Trainer seine Ausdauer beweisen und von dort aus bis nach Puerto Rico schwimmen! "Bist du ein verrückter Hund!", entfuhr es dem Köln-Coach Peter Stöger. "Nächstes Mal gebe ich dir mein Halstuch mit, das kannst du dir um den Kopf wickeln, damit du beim Schwimmen keinen Sonnenbrand bekommst!" 

Nachdem alle 22 Festspiel-Teilnehmer den Rasen betreten haben, konnten die Spiele nun endlich beginnen. Der als Mohr verkleidete Schiedsrichter ließ die beiden Mannschaftskapitäne jeweils eine Praline kosten. Derjenige, der die Füllung zuerst erraten würde, konnte die Seitenwahl für sich entscheiden. Michael Parensen erkannte den Brandy-Duft jedoch schon vor Einnahme der Praline, dabei ging ihm der Gedanke, ich muss dem Brandy-Dandy heute Abend noch die ausgeliehene Wendy zurückgeben, durch den Kopf. 

Anstoß für Union. Doch STOP! Schiri Drees, Doktor für Gesichts- und Zahn-Chirurgie, wies auf das Protokoll hin, wonach Union-Trainer Neuhaus seine Büttenrede noch nicht vorgetragen hätte. 45 000 Zuschauer kreischten laut auf! Welch Verstoß, welch Unverfrorenheit! "Immer ruhig, liebe Kinder", brüllte Neuhaus in das ihm gereichte Mikrofon und wischte sich die Reste der Milka-Schokolade vom Unterkiefer:

"Alaaf zusammen, liebe Hooligans und Hooliente!
Hoch hängen hier die Trauben,
trotzdem werden wir sie abstauben!
Euer Bollwerk ist schon stark,
doch werden wir hindurchglitschen wie Quark.
Abhängig ist von diesem Spiel weder Wohl noch Wehe,
einzig meine eigne Ehe!
Wir machen uns nicht kleiner als wir sind,
schließlich spielt mit Bigalke bei euch das Kind!
Letztes Jahr waren wir das Kaninchen vor der Schlange,
heute haltet ihr hin eure Wange!
Prost!"

Und... Anstoß!
Doch schon nach wenigen Minuten beschlich die Berliner Tanzbären ein ungutes Gefühl. Hier läuft doch etwas gehörig schief! Niemand wollte mit den grünen Männchen spielen, immerzu nahm man ihnen den Ball weg! Fanden sich mal kleine Grüppchen in einem Teil des Feldes zusammen, so strebten die Kölner sogleich rasend auseinander und ließen die Berliner im trockenen Regen stehen.

"Fabi! Die büchsen dauernd aus," sang der Chanson-Liebhaber Marc Pfertzel zu seinem Abwehrkollegen Fabian Schönheim herüber. "Ja, ich dachte auch, wir würden die Jungens erst einmal kennenlernen, bevor wir Hasche spielen!", antwortete Schönheim. "Und wo sind eigentlich Damir und Baris?", brüllte der mittlerweile erzürnte Schönheim. "Die stehen an der Seitenlinie und lassen sich vom Doc diese hippen vintage-Löcher in die Hosen reißen", erklärte Pfertzel.

Ganz besonders durcheinander wirkte Adam Nemec, der händeringend auf der Suche nach Kapitän und Anspielstation Torsten Mattuschka war. Nachdem er sich das Opernglas von Toni Schumachers Frau geben ließ, erspähte er Tusche Glühwein trinkend auf der Haupttribüne. In den nächsten zehn Minuten schoss Nemec fünf Mal den Ball auf die Tribüne, mit einer solchen Präzision, dass Mattuschka Mühe und Not hatte, den Glühwein nicht zu verschütten.

"Was macht denn unser Knödel da?", brüllte Neuhaus wild herum. Auswechselspieler Mario Eggimann eilte herbei und bot dem Trainer Schokolade an, bei dem nun sowohl Unter- als auch Oberkiefer ein wildes Eigenleben führten. Er lehnte die Schokolade jedoch dankend ab und fragte den Eidgenossen: "Hast du heute kein Bonbon dabei? Ich hätte gern ein Bonbon. Bitte." Eggimann musste ablehnen. Nachdem die Bonbon-Produktion von der Schweiz nach Jamaika verlagert wurde, könne er nicht mehr garantieren, dass in den Bonbons keine verbotenen Substanzen seien.

Neuhaus schaukelte nun in Gedanken verloren auf Jamaika in einer Hängematte herum. Während er an einer Piña Colada nippte, kam ihm ein Einfall! Er brüllte zu Tusche auf die Tribüne: "Tusche, mein Dickerchen! Beweg dich und deinen Glühwein doch bitte hinter das Kölner Tor und wink dem Adam von dort zu!" Tusche machte sich auf den Weg, allerdings kam er mit seiner VIP-Karte nicht in den Block, vor dem das Kölner Tor stand. "Komm schon, du Mensch, lass mich rein! Mein Glühwein ist heiß wie Frittenfett!", versuchte er einen Ordner zu überzeugen. Doch dieser blieb stur. Tusche redete sich in Rage, konnte sich kaum beruhigen und fasste dem Ordner immer und immer wieder an dessen rote Clowns-Nase. Schließlich führte man ihn strampelnd ab. Die umherstehenden, als Geier verkleideten Berichterstatter der bunten Blätter zwitscherten sogleich, Berliner Blocksturm endet in Ausnüchterungszelle!

Währenddessen nahm das Unheil auf dem Rasen seinen Lauf. Die Berliner Spieler beklatschten begeistert die artistischen Zuspiele der Kölner. "Ich find das so schön, was die da machen. Da störe ich doch nicht!", fasste Roberto Puncec seinen Genuss in Worte. Der alte Haudegen Benjamin Köhler saß da schon längst auf einem Camping-Stuhl und suchte die Loge von Lukas Podolski, die dieser sich vor Kurzem kaufte. "Hm... jetzt ne Runde Fifa zocken mit Poldi..." Torhüter Daniel Haas war gerade dabei, aus seinem Schienbeinschoner eine versteckte Zigarette zu holen, da blinkte auf der Video-Leinwand der Hinweis, bitte nicht rauchen, auf. "Verdammt, nicht mal mehr rauchen darf man in diesem Bundesland", urteilte der stets gut informierte Haas. Während sich das Spiel dem Ende zuneigte, beantwortete FC-Trainer Stöger schon die erste Frage eines Express-Journalisten: "Herr Stöger. Was halten sie vom Abriss der Dompilze?"

Abpfiff. Kater.


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und morgen Neuköln

back in the game... nach ein paar Jahren Stillstand.